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Seminar: Klima: Wissenschaft – Gesellschaft – Geschichte

Seminar: Klima: Wissenschaft – Gesellschaft – Geschichte

Von Gletschern und Klima: Eine Geschichte von sterbendem Eis

Lea Geibel

Können Gletscher sterben? Ja, denn die Eismassen bedeuten für uns mehr als nur gefrorenes Wasser.

Da vom Klimawandel noch keine Rede: Romantische Darstellung des Rhonegletschers im 19. Jahrhundert.

Der erste Schweizer Gletscher wird beerdigt“ – im Herbst 2019 häuften sich solche und ähnliche Schlagzeilen. Nach der medienwirksam inszenierten „Beerdigung“ eines isländischen Gletschers kündigte eine Gruppe Schweizer Umweltschutzverbände an, den ersten „toten“ Schweizer Gletscher beerdigen zu wollen. Von diesem Zeitpunkt an standen bei uns in der Arbeitsgruppe für Gletscherforschung an der ETH Zürich die Telefone nicht mehr still. Unzählige Zeitungen, Fernsehsender und Radiostationen wollten wissen: „Wann ist ein Gletscher tot?“, „Wie kann ein Gletscher sterben?“ Aus einer kleinen Idee wurde innerhalb weniger Tage ein riesiges Medienereignis, über 400 Teams von Journalisten haben sich für die „Trauerfeier“ für den Pizolgletscher angemeldet.

Aber warum stösst das „Gletschersterben“ auf derart viel Medieninteresse? Und weshalb ist der „Tod“ eines Gletschers für viele so emotional, dass eine „Trauerfeier“ angemessen scheint? Eigentlich geht es hier doch nur um ein bisschen Eis, das in den Bergen liegt, oder nicht? Warum werden dem Gletscher Eigenschaften eines lebendigen Wesens zugesprochen?

Ehrfurcht vor den Eismassen: Glaziologische Kommission der Schweizerischen Akademie für Naturwissenschaften am Rhonegletscher, August 1921.

Tatsächlich kann sich kaum jemand einer gewissen Ehrfurcht entziehen, der oder die einmal selbst vor den riesigen Eismassen gestanden hat, die sich von den Berggipfeln unaufhaltsam ins Tal hinab bewegen. Unüberwindbar, unnahbar und kalt stehen Gletscher wie zerfurchte, weiße Wände aus Eis vor uns. Anders als Berge, die sich auf Zeitskalen verändern, die für Menschen nicht wahrnehmbar sind, sind Gletscher sehr dynamisch. Durchschnittlich einen Meter pro Tag bewegen sich Alpengletscher. Manche Eisströme in der Antarktis legen täglich sogar eine Distanz von weit über zehn Metern zurück.

Diese Bewegungen können mit Seismometern – einer Art Mikrophon – aufgenommen werden. Hört man sich diese Aufnahmen an, scheint es fast so, als hätte der Gletscher einen Herzschlag und einen Atem. Aus gefrorenem Wasser wird dadurch eine nahezu majestätische Gestalt, die fliesst und atmet, während sie scheinbar unaufhaltsam von den Berggipfeln ins Tal hinabrollt. Wenig erstaunlich also, dass Gletscher viele eher an ein Lebewesen als an blosse kalte Materie erinnern. Ein Lebewesen, zu dem sich eine emotionale Bindung aufbauen lässt.

VON DER GLETSCHER- ZUR KLIMAFORSCHUNG

Die Vorstellung des Gletschers als „Lebewesen“ reicht weit in die Geschichte zurück. Vor der Erschliessung der Alpen für Forschung, Wissenschaft und Freizeit war das Bild des Gletschers allerdings sehr viel diffuser als heute. Nur die wenigsten Menschen sind je selbst vor einem Gletscher gestanden und Bilder oder Zeichnungen von Gletschern waren wenig verbreitet.

Gleichzeitig waren Gletscher in der sogenannten „Kleinen Eiszeit“ – einer Klimaperiode, die vom 15. Jahrhundert bis in das 19. Jahrhundert anhielt – durchaus eine Bedrohung für die Menschen. Sogenannte Gletscherfluten, die bei der spontanen Entleerung von instabilen Gletscherseen entstehen, konnten ganze Dörfer in der Nähe eines Gletschers zerstören. Die „Charakterzüge“ des Gletschers waren also vor allem mit einer unberechenbaren und für viele unbekannten Gefahr verbunden.

Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich mit der Entstehung der modernen Gletscherforschung und den wegweisenden Arbeiten von Louis Agassiz eine neue Betrachtungsweise von Gletschern durch.[1] Zwar sollte es noch sehr lange dauern, bis diese Erkenntnisse eine breitere Bevölkerung erreichten, und es herrschte innerhalb der Gletscherforschung nur wenig Konsens. Erstmals wurde dem Gletscher aber ein Teil seiner Unnahbarkeit genommen, indem er wissenschaftlich beschrieben werden konnte.

Eine neue Generation von Gletscherforscher*innen: Excursion der Gruppe um den Zürcher Geologen Albert Heim auf dem Aaregletscher, Juli 1904.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam eine neue Generation von Gletscherforschern auf, zu deren wichtigsten Vertretern John Tyndall zählt. Neben seiner Forschung war Tyndall erfolgreicher Alpinist, der zahlreiche spektakuläre Erstbegehungen meisterte, was nicht unmassgeblich zu dem Erfolg in der Gletscherforschung beitrug. Ging es den Forscher*innen des 19. Jahrhunderts vor allem darum zu verstehen, was ein Gletscher überhaupt ist und warum er beispielsweise fliesst, so integrierte Tyndall die Gletscherforschung vermehrt in den breiteren Kontext der Klimaforschung, einem Forschungsbereich, zu dessen Entstehung er ebenfalls massgeblich beitrug. Einen wichtigen Anteil daran hatte die Entdeckung des Treibhauseffekts.[2]

Der „Charakter“ des „Lebewesens“ Gletscher wurde dadurch um eine neue Dimension erweitert: Er verfügte nun über einen „Stoffwechsel“ und stand im Austausch mit seiner Umwelt. Seine Dynamik und Fliesscharakteristika wurden direkt an Klimafaktoren gekoppelt: Ist es warm, fliesst der Gletscher anders und schneller, als wenn es sehr kalt und trocken ist, und wieder anders, wenn der Niederschlag hoch ist. Andererseits wurde das Klima aber zur Grösse, die überhaupt über die grundlegende Existenz des Gletschers entscheidet.

Dieser Aspekt der Gletscherforschung wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wichtiger. Es entstanden früh empirische Beobachtungen, die Gletscherausdehnung mit dem Klima korrelierten. Daraus resultierten auch die bekannten Fotografien des Rhonegletschers, der früher bis ins Dorf Gletsch hinab ins Tal reichte, während er zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon bis zur Steilkante zurückgewichen war.

 

Rhonegletscher 1850 und 2005

Solche Bilder sind weitgehend dafür verantwortlich, dass viele Menschen Gletscher heute vor allem mit Gletscherausdehnungen assoziieren. Denn ihre Botschaft ist auch ohne weiteres Wissen über die durchaus komplexe Wissenschaft, die dahinter steht, verständlich: Der Gletscher war riesig, als es kalt war, und weil die Temperaturen stetig zunehmen, schmelzen die Gletscher allmählich. Dass diese Veränderung auf viele beängstigend wirkt, ist verständlich: Wenn sich sogar diese bedrohlichen, ewigen Eismassen durch unser menschliches Handeln derart verändern können, welche Auswirkungen hat unser Handeln dann auf so kleine Lebewesen wie uns Menschen?

GEFÄHRDETE GLETSCHER, GEFÄHRDETE HEIMAT

Dass Bilder von „sterbenden“ Gletschern in der Öffentlichkeit Ängste wecken, hat nicht zuletzt mit der Stellung zu tun, welche sie in der Gesellschaft einnehmen. In der Schweiz sind beispielsweise schneebedeckte Berglandschaften mit Gletschern auch immer Symbole der Heimat.[3] Der Klimawandel gefährdet mit den Gletschern also auch einen Teil der Schweizer Identität.

Und oft werden solche Emotionen bewusst politisch kanalisiert. Ein Beispiel dafür ist Al Gores berühmte Rede aus 1997 vor dem schrumpfenden Grindell Gletscher im Glacier National Park in Montana. Er appelliert dabei an die Regierung, ihre Klimapolitik anzupassen. Die Rede ist kennzeichnend für einen weiteren Wandel in der „Karriere“ des Gletschers: Er wird zum Botschafter für den Klimawandel.[4]

Auch das enorme Medienecho für die „Trauerfeier“ für den Schweizer Pizolgletscher fügt sich exakt in die Thematik ein. Der Gletscher wird als bedrohtes, sterbenden Lebewesen gedeutet, als Opfer der verfehlten Klimapolitik der letzten Jahrzehnte.

Kommt man an diesem Punkt nun auf meine persönliche Erfahrung als Gletscherforscherin zurück, so gab es in meinem Studium nach einigen theoretischen Einführungsveranstaltungen eine interessante Diskussion. Die Studierenden wurden aufgefordert, den International Panel on Climate Change (IPCC) Bericht zum Zustand der Gletscher zu lesen, sich die öffentliche Darstellung und Wahrnehmung von Gletschern und Klimawandel vor Augen führen und diese beiden Punkte mit dem bisher erworbenen Wissen über Gletscher zusammenzuführen.[5] Die Frage war, inwiefern das Bild des Gletschers als Thermometer für das globale Klima tatsächlich funktioniert. Inwieweit ist es wissenschaftlich fundiert? Wo hat es Schwächen, das heisst, welche anderen Faktoren neben dem Klima können das Verhalten und die Ausdehnung der Gletscher beeinflussen? Wie gross sind die Unsicherheiten in diesem Bereich?

All diese Fragen lassen sich nicht nur fachwissenschaftlich beantworten. Das öffentlich verbreitete Bild des Gletschers als vom Klimawandel „gefährdetes Wesen“ stellt zwar eine Vereinfachung wissenschaftlicher Tatsachen dar, da die Massenänderung von Gletschern neben steigenden Temperaturen noch von weiteren Faktoren, wie z.B. der Niederschlagsmenge abhängen kann. Trotzdem haben solche Bilder aber durch die Emotionen, die sie in den Menschen wecken, immer eine enorme Macht. Als Glaziolog*innen können wir das „Gletschersterben“ zwar nicht verhindern. Wir können uns aber der Macht dieser Gletscherbilder bedienen, um eine fachlich korrekte aber zugleich verständliche öffentliche Diskussion über das „Gletschersterben“ und den Klimawandel zu eröffnen. Denn nur so – mit einem Bewusstsein für die Macht und die Geschichte von wissenschaftlichen Bildern – gelingt es uns, auf den fatalen Einfluss des Klimawandels aufmerksam zu machen und Menschen zum Handeln zu bewegen.

Geologische Schlussexcursion am Brunnigletscher, 1900.

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Le glacier du Rhône en 1873, in: Les variations périodiques des glaciers des Alpes Suisses: Rapports annuels 61 (1941).

Abbildung 2: Kuntschen, Typischer Spalt im untern Firngebiet, 29.VIII.1921, Fotografie : Papierabzug, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000017309

Abbildung 3: Unbekannt, Geologische Excursion von Albert Heim, auf Gletschertisch auf dem Aaregletscher, Juli 1904, Fotografie : Papierabzug, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000055940

Abbildung 4: Simulation Rhone-Gletscher, VAW-ETHZ, http://www.ethlife.ethz.ch/archive_articles/100607_Gletscher_su/

Abbildung 5: Geologische Schlussexcursion, 27./31. Juli 1900. Brunnigletscher, Fotografie : Papierabzug, ETH-Bibliothek Zürich, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000105696

Literaturverzeichnis

[1] Gerry K.C. Clarke: „A Short History of Scientific Investigations on Glaciers“, in: Journal of Glaciology 33 (1987) , S. 4-24; Tobias Krüger: „Eiszeit: Jean de Charpentier als tragischer Wegbereiter einer wissenschaftlichen Umwälzung“, in: Patrick Kupper, Bernhard C. Schär (Hg.): Die Naturforschenden. Auf der Suche nach Wissen über die Schweiz und die Welt, 1800-2015, Baden: hier und jetzt Verlag (2015), S. 17–34.

[2] Spencer R. Weart: The discovery of global warming: Cambridge MA: Harvard University Press (2008), S. 1–18.

[3] Oliver Zimmer: „In Search of Natural Identity: Alpine Landscape and the Reconstruction of the Swiss Nation“, in: Comparative Studies in Society and History 40/4 (1998), S. 637–665.

[4] Mark Carey: „The History of Ice: How Glaciers Became an Endangered Species“, in: Environmental History 12 (2007), S. 497-527.

[5] IPCC: Climate Change 2014: Synthesis Report. Contribution of Working Groups I, II and III to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change [Core Writing Team, R.K. Pachauri and L.A. Meyer (eds.)]. Genf (2014).

Seminar

Dieser Text entstand im Seminar „Klima: Wissenschaft – Gesellschaft – Geschichte“, Herbstsemester 2018, ETH Zürich.

Redaktionell betreut von

Nils Güttler & Monique Ligtenberg

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Le glacier du Rhône en 1873, in: Les variations périodiques des glaciers des Alpes Suisses: Rapports annuels 61 (1941).

Abbildung 2: Kuntschen, Typischer Spalt im untern Firngebiet, 29.VIII.1921, Fotografie : Papierabzug, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000017309

Abbildung 3: Unbekannt, Geologische Excursion von Albert Heim, auf Gletschertisch auf dem Aaregletscher, Juli 1904, Fotografie : Papierabzug, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000055940

Abbildung 4: Simulation Rhone-Gletscher, VAW-ETHZ, http://www.ethlife.ethz.ch/archive_articles/100607_Gletscher_su/

Abbildung 5: Geologische Schlussexcursion, 27./31. Juli 1900. Brunnigletscher, Fotografie : Papierabzug, ETH-Bibliothek Zürich, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000105696

Literaturverzeichnis

[1] Gerry K.C. Clarke: „A Short History of Scientific Investigations on Glaciers“, in: Journal of Glaciology 33 (1987) , S. 4-24; Tobias Krüger: „Eiszeit: Jean de Charpentier als tragischer Wegbereiter einer wissenschaftlichen Umwälzung“, in: Patrick Kupper, Bernhard C. Schär (Hg.): Die Naturforschenden. Auf der Suche nach Wissen über die Schweiz und die Welt, 1800-2015, Baden: hier und jetzt Verlag (2015), S. 17–34.

[2] Spencer R. Weart: The discovery of global warming: Cambridge MA: Harvard University Press (2008), S. 1–18.

[3] Oliver Zimmer: „In Search of Natural Identity: Alpine Landscape and the Reconstruction of the Swiss Nation“, in: Comparative Studies in Society and History 40/4 (1998), S. 637–665.

[4] Mark Carey: „The History of Ice: How Glaciers Became an Endangered Species“, in: Environmental History 12 (2007), S. 497-527.

[5] IPCC: Climate Change 2014: Synthesis Report. Contribution of Working Groups I, II and III to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change [Core Writing Team, R.K. Pachauri and L.A. Meyer (eds.)]. Genf (2014).